Springe zum Inhalt oder Footer
SerloDie freie Lernplattform

Kultur des Genug und Kultur des Mangels

Dieser Artikel befasst sich mit der Definition und den Maßstäben des Genug vs. des Mangels und wie diese auf uns wirken.

Abb.1: Das eigene Genug definieren

Was bedeutet Reichtum und Überfluss für die Lebensqualität? Gibt es eine Grenze, ab der man reinen Herzens sagen kann "so, dass ist jetzt genug an elektronischem Equipment, Sahnetorte, Kinobesuchen, Strandurlauben oder was es sonst noch so an Luxus gibt"?

Und wie kann das Genug dann nicht der erhobene Zeigefinger sein, der aus dem eigenen Gewissen oder Moralvorstellungen anderer daherkommt, sondern bedeuten: Es reicht mir tatsächlich?

Kultur des Mangels

Diese Frage stellt sich für den Konsum, seien es Gegenstände oder Dienstleistungen, diese Frage stellt sich aber auch für andere wesentliche Lebensaspekte. In Deutschland und in vielen anderen Ländern der westlichen Kultur leben die meisten Menschen unter einer Glocke des Mangels: von vielen wichtigen Dingen scheint zu wenig da zu sein.

Die Aktivistin Lynne Twist beschreibt diese Sicht:

Abb. 2: Lynne Twist

“Wie für viele andere auch ist mein erster Gedanke beim Aufwachen: „Ich habe nicht genug Schlaf bekommen. “ Der nächste ist: „Ich habe nicht genug Zeit.“ Ob es nun stimmt oder nicht, jene Gedanken kommen automatisch, bevor wir auch nur daran denken, sie zu hinterfragen oder zu untersuchen. Wir verbringen viele Stunden und Tage unseres Lebens damit zu hören, zu erklären, uns darüber zu beschweren oder Sorgen zu machen, was nicht genug ist …. Nicht genug Bewegung. Nicht genug Arbeit. Nicht genug Profit. Nicht genug Kraft. Nicht genug unberührte Natur. Nicht genügend Wochenenden. Und natürlich haben wir sowieso nie genug Geld. Wir sind nicht dünn genug, nicht schlau genug, einfach nie schön, fit, oder gebildet genug, nie erfolgreich oder reich genug. Bevor wir uns im Bett aufrichten, ja, bevor unsere Füße den Boden berühren, sind wir bereits unzulänglich, im Rückstand, am Verlieren, im Mangel. Und bis zu dem Zeitpunkt, wo wir abends ins Bett gehen, spult unser Verstand eine Litanei all dessen ab, was wir an jenem Tag nicht bekommen oder nicht geschafft haben.”

zitiert in Brené Brown, Die Gaben der Unvollkommenheit (1)

Lynne Twist und Brené Brown beschreiben die Kultur des Mangels als psychischen Autopiloten. In unseren persönlichen Einstellungen und Haltungen bildet sich die in unserer Gesellschaft verbreiteten Annahme ab, Wichtiges im Leben sei generell knapp: Zeit, Geld, Aufmerksamkeit, Liebe, ein Platz an der Sonnenseite des Lebens.

Diese Annahmen prägen die verbreitete Vorstellung von der Wirklichkeit in unserer Kultur. Sie entsprechen den volkswirtschaftlichen Annahmen über das Funktionieren von Wirtschaftssystemen: Grundlage allen Wirtschaftens ist der Mangel, denn der rationale Konsument kauft ja nur dann etwas, wenn ihm etwas fehlt. (2) Mangel beziehungsweise Nutzen muss in neu zu erschließenden oder gesättigten Märkten suggeriert werden, um ein Produkt oder eine Dienstleistung zu verkaufen. (3)

Tatsächlich vermitteln neue Besitztümer nur kurz andauernde Glücksmomente. Wie also entscheiden wir, was wir brauchen und was überflüssig ist?

Kultur des Genug

Lina Jachmann meint:

“Was für den einen noch viel zu viel ist, ist für den nächsten genau richtig. … Es geht nicht darum, Dinge zu zählen, sondern darum, Platz für die Dinge im Leben zu schaffen, die uns wirklich glücklich machen.” (4)

Das wichtigste Kriterium, um diese Dinge zu finden, ist, für sie dann tatsächlich die Frage: Fühle ich mich mit diesem Gegenstand wohl? Ist es etwas, das ich oft benutze, z.B. mindestens einmal im Jahr? Die Frage ist: Was brauche ich tatsächlich, um mich gut zu fühlen? Nicht: Was darf ich nicht mehr haben?

Abb.3: Bedürfnisse evaluieren

Minimalisten gestalten ihr Leben in diesem Sinne. Sie berichten davon, dass ihr Leben durch Reduktion des eigenen Besitzes leichter und besser geworden sei. Sie kappen die Verbindung zwischen der Wahrnehmung “ich habe schlechte Laune” und “ich kaufe mir was”. Die Orientierung auf das Positive oder Schöne, das schon da ist, steht im Mittelpunkt. Aus der Haltung des Mangels würde es nicht gewürdigt und das Schöne eher in dem gesehen, was wir gerade nicht haben.

Die Forschung hat gezeigt, dass das bewusste Erleben schöner Erfahrungen das psychische und physische Wohlbefinden verbessert. Brené Brown schreibt über die Wertschätzung des Alltäglichen:

“Vermutlich habe ich am meisten über den Wert des Gewöhnlichen gelernt, als ich Männer und Frauen interviewte, die schreckliche Verluste wie, den eines Kindes erlitten hatten, oder die extremen Erfahrungen ausgesetzt gewesen waren, wie zum Beispiel Gewalt, Völkermord und Traumata. Die Erinnerungen, die für sie am heiligsten waren, bestanden in den gewöhnlichen, alltäglichen Momenten.”

Wir, die wir nicht in solchen Extremsituationen leben müssen, können das Gute in unserem Leben wahrnehmen und fördern. Dazu gehört ganz wesentlich zu überlegen, was unser eigenes Kriterium für “gut” ist.

Eigene Maßstäbe helfen, uns besser zu fühlen

Menschen, die wissen, was sie wollen und damit dann auch zufrieden sind, sind glücklicher als Leute, die versuchen, aus jeder Situation das Beste herauszuholen. Denn das “Beste” haben zu wollen, setzt die vollständige Information über die Wahlmöglichkeiten voraus.

Wenn ich etwas kaufen will, beispielsweise ein Mobiltelefon, dann kann ich mir entweder vorher überlegen, was mir wichtig ist und welche Preisspanne für mich akzeptabel ist. Sobald ich ein Telefon finde, das die von mir gewünschten Funktionen hat und der Preis ist ok, kaufe ich das Produkt.

Abb. 4: Die Qual der Wahl

Jemand, der das Beste haben will, sucht erstmal, welche neuen Funktionen es derzeit gibt, was die genauen Unterschiede der verschiedenen Produkte sind und wo sie am billigsten zu bekommen sind. Dies ist ein viel höherer Such- und Vergleichsaufwand, als die reine Orientierung an den persönlichen Anforderungen.

Wir brauchen Klarheit über das, was wir wollen - beim Einkaufen und bei grundlegenderen Fragen:

  • Was sind unsere persönlichen Vorstellungen von Erfolg, Wohlbefinden oder Schönheit?

  • Woran machen wir das fest?

Wir sind in einer Welt, die uns von allen Seiten mit Vorstellungen und Wertungen überflutet, wie Dinge zu sein haben. Wenn wir selbst nicht wissen, was wir eigentlich wollen und das zu unserem Maßstab machen, ist es sehr schwer, davon nicht mitgezogen zu werden.

Zu viel Auswahl überfordert uns

Bei zu viel Auswahlmöglichkeiten wird die Wahl zur Qual. Wir sind überfordert. Die Energie, die für den Entscheidungsprozess verbraucht wird, steht in keinem Verhältnis zum subjektiven Vorteil.

Maximizer, wie Barry Schwartz Menschen nennt, die aus jeder Gelegenheit den größten Vorteil und den meisten Spaß herausholen wollen, sind öfter nach der Entscheidung mit ihrer zeitintensiven Wahl unzufrieden. Sie glauben, etwas Anderes wäre besser gewesen. Sie fühlen sich insgesamt unglücklicher mit ihrem Leben und neigen stärker zu Depression als Menschen, die mit ihrer getroffenen Wahl zufrieden sind, wenn sie im Wesentlichen ihren persönlichen Wünschen entspricht.

Sozialer Vergleich ist schädlich

Wenn wir uns mit Anderen, deren Besitz und deren Möglichkeiten vergleichen, ist das schädlich für das eigene Glück.(8) Wir folgen damit einer Neigung, die für Menschen und andere in sozialen Beziehungen lebenden Primaten charakteristisch ist. Die Orientierung an den für uns relevanten Menschen liegt “in unseren Genen”. Es geht um Statussymbole, aber auch um Attraktivität, Erfolg, Anerkennung.

Wenn die Person, mit der wir uns vergleichen, anscheinend von irgendetwas mehr hat (Geld, Schönheit, Klugheit, Wissen, Geschick, Lebensqualität ….) fühlen wir uns unterlegen, weil wir es nicht so weit gebracht haben. Wenn die Person uns unterlegen ist, haben wir vielleicht ein schlechtes Gewissen, empfinden Mitleid oder sind unsicher, weil wir Neid befürchten. Oftmals sind wir nicht mehr in der Lage, mit der Person authentisch auf Augenhöhe umzugehen, sondern reduzieren sie auf ihren “Mangel”. Wir grenzen sie damit aus dem Kreis unserer gleichrangigen Bezugspersonen aus.

Dankbarkeit steigert unsere Lebensfreude

Dankbarkeit entsteht durch die Wahrnehmung von etwas Gutem, das in unserem Leben passiert ist und das uns nicht notwendigerweise zustand oder verdient war.(9) Sie bezieht sich immer auf jemanden oder etwas, das zumindest teilweise außerhalb unseres Selbst liegt. Dankbarkeit beinhaltet Demut - die Anerkennung, dass wir nicht sein könnten, wer wir sind, oder leben, wie wir leben, ohne den Beitrag anderer. Die Herausforderung ist die bewusste Wahrnehmung, wie andere Menschen oder Lebewesen zu unserem Wohlbefinden beitragen.

Abb. 5: Bewusst durch den Alltag

Je mehr wir in unserem Alltag unverdient Gutes entdecken, vielleicht sogar dankbar sind für das Leben selbst, desto stärker sind die positiven, nach Ansicht von Robert Emmons sogar heilenden Wirkungen: Menschen, die eher dankbar sind als andere, gehen glücklicher und zufriedener durchs Leben. Sie sind optimistischer, weniger ängstlich und depressiv, hilfsbereiter, vergeben anderen leichter und haben bessere Beziehungen. Dankbarkeit stärkt das Gefühl der Verbundenheit. (10)

Spannende Erlebnisse sind wirkungsvoller als tolle Sachen

Erlebnisse haben mittel- und langfristig bessere Auswirkungen auf die Lebensfreude als Dinge: ein Musikkonzert wirkt länger positiv auf das Wohlbefinden als ein neues Kleidungsstück.(11) Viele Leute haben den Eindruck, dass Geld besser in Gegenständen angelegt ist als in Events. Rückwirkend betrachtet sieht das anders aus: die Zufriedenheit ist bei guten Erlebnissen länger da als bei erworbenen Sachen. (12)

Schlussfolgerung

Die Kultur des Genug macht Menschen tatsächlich glücklicher, steht aber quer zu dem, wie unsere Wirtschaftssysteme in Deutschland und vielen anderen Ländern funktionieren. Es geht dabei nicht um Darben und sich aus moralischen Gründen die schönen Dinge des Lebens zu versagen. Es geht um unsere persönliche innere Orientierung, die jeden Tag durch unser Verhalten sichtbar wird. Natürlich ist es leichter, wenn wir mit anderen verbunden sind, die das ähnlich sehen und leben.

Du hast noch nicht genug vom Thema?

Hier findest du noch weitere passende Inhalte zum Thema:

Artikel

Quellen


    Dieses Werk steht unter der freien Lizenz
    CC BY-SA 4.0Was bedeutet das?