1 Überblick
In der Forensik spielen die Medizinwissenschaften traditionell eine prominente Rolle. Sicherlich liegt das nicht zuletzt an der Darstellung von Leichenschauen und Obduktionen in den Medien und dem schaurig-schönen Gefühl, das viele Menschen beschleicht, wenn sie aus sicherer Entfernung daran teilhaben dürfen.
Der Einführungskurs in die forensischen Medizinwissenschaften soll dich vertraut machen mit ihren Fachbereichen und zeigen, welche Hilfestellung sie bei der Lösung kriminalistischer Fragestellungen und zur Erkenntnisgewinnung vor Gericht, beitragen können.
Es ist sinnvoll, wenn du dir zunächst im Kurs "Grundlagen der Forensik" ein Grundverständnis über die Systematik der Forensik und ihrer vielfältigen Wissensgebiete, erarbeitest. Der Einführungskurs "forensische Medizinwissenschaften" wird ergänzt durch Artikel, die die Fachbereiche grundsätzlich oder anhand exemplarischer Kriminalfällen näher beleuchten:
Rechtsmedizin
Odontologie
Anthropologie
Der Kurs dauert circa 20 Minuten.

Rechtsmedizin der Charité Berlin
Quelle: Von Ralf Roletschek - Eigenes Werk, GFDL 1.2, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10989764
2 Rechtsmedizin
Die Forensische Medizin, oft auch als Rechtsmedizin oder Gerichtsmedizin bezeichnet, umfasst die Entwicklung, Anwendung und Beurteilung medizinischer und naturwissenschaftlicher Kenntnisse für die Rechtspflege sowie die Vermittlung arztrechtlicher und ethischer Kenntnisse für die Ärzteschaft. In Europa hat sich die Forensische Medizin als eigenständiges Fach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der „Staatsarzneikunde“ entwickelt.
Die bekanntesten Aufgabengebiete der Rechtsmedizin sind u.a. :
Forensische Pathologie (Leichenschau)
Forensische Genetik (DNA-Analysen, Abstammungsgutachten, u.a.)
Forensische Toxikologie (Untersuchungen zum Drogen- und Alkoholnachweis)
Forensische Altersschätzung (von nicht identifizierten Leichen)
Die Aufgaben- und Forschungsbereiche der Rechtsmedizin überschneiden sich vielfältig und auch die Begriffe werden in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. So wird bspw. die Forensische Pathologie in der Berliner Charité als der zentrale Bereich der Rechtsmedizin aufgeführt.
Jedoch erfolgt in Abgrenzung zur klinischen Pathologie, in der der natürliche Tod (z.B. Tod infolge einer Krankheit) untersucht wird, in der Rechtsmedizin die Untersuchung des nicht-natürlichen Todes (z.B. Tod infolge einer äußeren Einwirkung) und der Todesfälle, bei denen durch die ärztliche Leichenschau die Todesart nicht geklärt werden konnte.

Autopsie (1890) Enrique Simonet
3 Odontologie
Die Forensische Odontologie oder Zahnmedizin, ist neben der Rechtsmedizin und der Anthropologie eine der drei gerichtlichen Wissenschaften vom Menschen und beschäftigt sich hauptsächlich mit:
der individuellen Identifizierung von Leichen anhand des Vergleichs ihrer Gebisse, also den Zähnen und dem Kiefer, vor und nach dem Tod;
den Opfern von Verbrechen, bei Natur-, Brand-, Flugzeug-, Schiffs-, Zug- und Verkehrskatastrophen;
der Zuordnung von Bissspuren, der Altersdiagnostik, der Geschlechtsbestimmung.
Der Anteil der forensischen Odontologie bei Identifikationsverfahren ist sehr hoch: So wurden bei der Tsunami-Katastrophe 2004 in Südostasien insgesamt 1.474 Opfer identifiziert. In 79 % der Fälle war der primäre Identifikator ein odontologischer Vergleich ihres Zahnstatus: Die individuellen Besonderheiten der Zähne und zahnärztliche Eingriffe erlauben also eine sehr enge Eingrenzung der Identität einer Person, die in der Identifizierungssicherheit mit dem Fingerabdruck oder sogar mit der DNA - Analyse vergleichbar ist.
Beispielsweise gilt bei Identifikationen mittels Daktylogramm die durchgängige Regel, dass mindestens 12 ähnliche charakteristische Elemente von zwei zu vergleichenden Fingerabdrücken eine positive Identifizierung bedeuten. Auch für die forensische Odontologie gilt daher, dass ebenfalls mindestens 12 ähnliche charakteristische Elemente von zwei zu vergleichenden Gebissbefunden zu einer Identifizierung führen. Mathematisch übersteigt bei beiden Verfahren die Zahl der Möglichkeiten diejenige der Erdbevölkerung. Insgesamt gibt es mehr als zwei Billionen Kombinationsmöglichkeiten. Die Methode wird deshalb auch als „dental fingerprinting“ bezeichnet. Bei einem odontologischen Vergleich werden die noch erhaltenen Zähne der Opfer mit dem Zahnstatus und Röntgenbilder von vermissten Personen verglichen.

Zahnschema - Polizeilicher Vordruck
4 Anthropologie
Bei der Forensischen Anthropologie steht die Identifikation von menschlichen Überresten oder lebenden Menschen anhand von biologischen Merkmalen im Mittelpunkt. Sie hilft mit den Mitteln der Anthropologie bei der Aufklärung von Verbrechen. Bei dem zu untersuchendem Material handelt es sich meist um skelettierte oder mumifizierte Überreste. Dabei werden ganze Skelette, einzelne Knochen und Knochenfragmente einer morphologischen und osteometrischen Begutachtung unterzogen, um die Zahl der infrage kommenden vermissten Personen einzugrenzen. Auch der Bereich der „Lebendidentifikation“, beispielsweise das Untersuchen von Bildmaterial, wird von der Forensischen Anthropologie betreut. Die mehrteilige Lichtbildaufnahme hat sich in diesem Zusammenhang zur erkennungsdienstlichen Standardmaßnahme bei der Identifizierung von verdächtigen Personen entwickelt:

Photograph and Bertillon record of Francis Galton (age 73) created upon Galton's visit to Bertillon's laboratory in 1893. Serves as a good example of Bertillon's identification technology.
Die Forensischen Anthropologie befasst sich also mit Untersuchungen, die in straf- oder zivilrechtlichen Verfahren relevant für die Urteilsfindung sind.
Naturgemäß gibt es Überschneidungen mit dem Gebiet der Rechtsmedizin. Dort liegt jedoch der Schwerpunkt auf der Feststellung, "wie und mit welchen Folgen es zur Beeinträchtigung der körperlichen Integrität eines Opfers kam".
Auch kann die Forensische Anthropologie überschneidend zu Methoden der Rechtsmedizin, aber in "eigenständiger Kompetenz", Aussagen treffen zu Liegezeit und Liegemilieu oder besonderen Behandlungen eines Kadavers Aussagen. Insbesondere kann sie Verletzungen am Skelett bewerten und interpretieren.