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Der Mordfall Lucie Berlin

Die Marschallbrücke im Jahr   1896 - Fundort von Leichenteilen von Lucie Berlin

Die Entwicklung forensischer Methoden steht oft in engem Zusammenhang mit spektakulären Verbrechen, die für Aufsehen und Unruhe in der Öffentlichkeit sorgen. So war der Mordfall Lucie Berlin, der sich im Juni 1904 in Berlin ereignete, ein Meilenstein für die forensische Biologie.

Sachverhalt

Am Morgen des 11. Juni 1904 stießen zwei Abfischer auf der Spree in der Nähe der Marschallbrücke auf Höhe des Anwesens Schiffbauerdamm 26 (heute: Marie-Elisabeth-Lüders-Haus)[5] auf ein blutbeflecktes Packpapierbündel, das auf dem Wasser trieb. Unter dem Packpapier trieb der Rumpf eines circa achtjährigen Mädchens. Die Abfischer zogen den Rumpf ins Boot und fuhren zur nächsten Anlegestelle, von wo aus sie die Polizei informierten. Der herbeigerufene Gerichtsarzt Arthur Schulz untersuchte den Rumpf noch am Flussufer und entdeckte deutliche Anzeichen für ein Sexualverbrechen. Dank der gerade neu eingeführten Registraturen dauerte es nicht einmal eine Stunde, bis ein Polizist die Meldung brachte, dass seit dem 9. Juni die achtjährige Lucie Berlin (* 8. Juli 1895; † 9. Juni 1904)[2] aus dem Norden Berlins vermisst wurde. Die Beschreibung der zuletzt getragenen Kleider des Mädchens passte auf die Kleidungsreste am gefundenen Torso. Lucie Berlin war die jüngste Tochter des Zigarrenmachers Friedrich Berlin, wohnhaft in der Ackerstraße 130[6] in Berlin-Gesundbrunnen. Der Polizeipräsident Georg von Borries ließ Friedrich Berlin holen, um das Kind zu identifizieren, was dem Vater durch eine kleine Narbe unterhalb der Brust auch möglich war.

Der Rechtsmediziner Fritz Straßmann führte die Obduktion des Torsos durch und legte den Zeitpunkt des Todes anhand des Mageninhaltes auf rund eine Stunde nach der letzten Mahlzeit des Kindes, dem Mittagessen am 9. Juni 1904, fest. Straßmann befand, Lucie Berlin sei vergewaltigt und anschließend „mit hoher Wahrscheinlichkeit erwürgt“ worden. Das Abtrennen der Gliedmaßen sei durch „ungeschickte Hände“ erfolgt.

Gerichtsverhandlung und Urteil

Am 12. Dezember 1904 wurde der Prozess gegen den weiterhin leugnenden Angeklagten Theodor Berger eröffnet. Fast 100 Zeugen wurden an zehn Prozesstagen vernommen. Ein Ortstermin des Gerichtes in der Ackerstraße 130 geriet zu einem Menschenauflauf. Wieder berichtete die Berliner Presse in allen Details und druckte ganze Zeugenaussagen wortwörtlich ab. Das Interesse der Bevölkerung war ungebrochen groß, die Zuschauer forderten die Todesstrafe für Berger. Im Rahmen der Anklage legte der Gerichtsarzt Schulz die Ähnlichkeit der Wollfasern und den Blutartnachweis dar. Die Gegengutachter bestritten die Übereinstimmung der Wollfasern, zweifelten die Herkunft des Reisekorbes an und erklärten den Blutartnachweis für nicht schlüssig. August Wassermann wurde als Sachverständiger berufen und erklärte im Sinne der Anklage, die Untersuchungen seien vorschriftsmäßig ausgeführt worden, das Testergebnis „Menschenblut“ sei korrekt. Weiterhin äußerte sich Wassermann zu den Todesumständen Lucie Berlins. Diese sei entweder verblutet oder erstickt. Dafür sprachen die vorgefundenen typischen Erstickungsblutungen an Herz und Lunge. Der Körper des Kindes wies keine Strangulations- oder Würgemale auf. Wassermann ging deswegen von einer Erstickung durch ein auf das Gesicht gedrücktes Kissen oder durch das Zuhalten von Mund und Nase aus. Die Geschworenen befanden Berger in diesem Indizienprozess für schuldig. Am 23. Dezember wurde Theodor Berger wegen Vergewaltigung und Totschlags zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Forensische Bedeutung

Der Fall gilt als einer der ersten aktenkundigen Anwendungen des Blutartnachweises in einem Strafverfahren. Der Bakteriologe Paul Uhlenhuth hatte den nach ihm benannten Test zur Unterscheidung von Menschen- und Tierblut entwickelt. Bis zum Mordfall Lucie Berlin wurden Blutspuren an etwaigen Tatorten, Kleidern oder möglichen Tatwaffen von Verdächtigen und Tätern oft als Tierblut ausgegeben, der Beweis des Gegenteils war nicht möglich. Im Fall Lucie Berlin wurde der Uhlenhuth-Test in einer Ermittlung angewendet und vor Gericht als Beweismittel zugelassen:

Der Einsatz der Präzipitationsreaktion erlangte somit kriminalhistorische Bedeutung. Dieser Serum-Präzipitin-Test ist ein serologischer Verwandtschaftsnachweis, der auf der Präzipitation von Seren mit Antigenen im Blutserum, die eine verwandtschaftsbedingte Ähnlichkeit zu dem zur Herstellung des Immunserums verwendeten Antigens besitzen, beruht. Paul Uhlenhuth aus Greifswald veröffentlichte 1901 das Verfahren zur serologischen Artbestimmung, das heute seinen Namen trägt. Das Verfahren erlaubte, Tier- und Menschenblut eindeutig zu unterscheiden. Er war aber nicht der Einzige, der sich experimentell mit diesem forensisch bedeutsamen Problem beschäftigte. Nur einen Tag nach dem Erscheinen der bahnbrechenden Veröffentlichung von Uhlenhuth hielt August Wassermann vor der Berliner Physiologischen Gesellschaft einen Vortrag, in dem er über seine gemeinsam mit Albert Schütze durchgeführten Untersuchungen sprach. Sie waren zeitgleich und unabhängig von Uhlenhuth zu denselben Ergebnissen gekommen. Im Mordfall Lucie Berlin wurde der Uhlenhuth-Test erstmals in einem gerichtlichen Verfahren zugelassen und von August Wassermann als sachverständigem Gutachter dem Gericht vorgetragen. Dies führte zu der Namensgebung "Uhlenhuth-Wassermannsche-Methode".

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