Springe zum Inhalt oder Footer
SerloDie freie Lernplattform

Vom Narrenturm zur neuronalen Justiz - Eine kleine Geschichte der forensischen Psychiatrie

Grundgerüst cortico-corticaler Assoziations- und Kommissurfasern im Konnektom-Modell der menschlichen Großhirnrinde

Grundgerüst cortico-corticaler Assoziations- und Kommissurfasern im Konnektom-Modell der menschlichen Großhirnrinde

Spektakuläre Kriminalfälle oder tragische Ereignisse rücken forensische Arbeitsfelder oft schlaglichtartig in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. So ist die „forensische Psychiatrie“ beispielsweise im Zusammenhang mit scheinbar unerklärlichen Gewalttaten oder Amoktaten häufig gefordert: Die forensische Psychiatrie übernimmt eine wichtige Aufgabe bei der Aufklärung der Tat und bei der Frage nach der Schuld des Täters.

Es wird also die Schuldfähigkeit des Täters geprüft und darauf aufbauend die an ihn gerichtete persönliche "Vorwerfbarkeit" der Tat. Liegen Schuldfähigkeit und persönliche "Vorwerfbarkeit" vor, kann der Täter bestraft werden. Die forensische Psychiatrie ist das wissenschaftliche Spezialgebiet, das sich mit der Diagnose, Untersuchung und Behandlung von psychischen Erkrankungen in Rechtsfragen befasst. Damit ist das erkennende Gericht existenziell auf die wissenschaftliche Expertise und das psychiatrische Gutachten bei der Klärung der Schuldfrage angewiesen.

Hintergrund

Die überragende Bedeutung der forensischen Psychiatrie im Hinblick auf die Schuldfrage des beschuldigten Täters ist das Ergebnis jahrhundertelanger wissenschaftlicher Forschungen, der entsprechenden Entwicklung gesellschaftlicher Einstellungen über die „Freiheit des Willens“ und damit einhergehenden Anpassungen von Strafrecht und Strafvollzug. Mit jeder neuen Erkenntnis der neuronalen Forschung wächst entsprechend auch die Bedeutung der forensischen Psychiatrie.

Aufgrund der dynamischen Entwicklung der modernen Gehirnforschung mittels neuester technischer Untersuchungsmethoden wächst jedoch auch die Konfliktlinie zwischen der herkömmlichen, klinischen forensischen Psychiatrie und der technikbasierten Neuro-Psychiatrie.

Dieser Artikel verschafft einen historischen Überblick über die forensische Psychiatrie bis zum heutigen Stand der Dinge.

Historische Entwicklung

Bereits im Altertum fanden die unterschiedlichen Gemütszustände bei Gewalttaten Beachtung; so wurde im römischen Recht unter Kaiser Hadrian zwischen absichtlichem Mord und Affekthandlungen unterschieden. Diese Unterscheidung fand auch in der mittelalterlichen Rechtsauffassung ihren Niederschlag.

Die technologischen und politischen Umwälzungen seit etwa dem 17. Jahrhundert führten jedoch im europäischen Rechtsraum zu einer immer stärkeren Betonung von rationalem, selbstverantwortlichem Handeln, womit auch die Frage nach der Verantwortlichkeit für strafbares Handeln in der Wissenschaft in den Fokus des Interesses rückte.

Frühe Neuzeit

So wurde 1784 unter dem österreichischen Kaiser Joseph II. der sogenannte Narrenturm im Gelände des „Alten Allgemeinen Krankenhauses“ der Stadt Wien als erste Psychiatrische Klinik Kontinentaleuropas gebaut. Die Errichtung des Narrenturms stellte in Anbetracht des historischen und gesellschaftlichen Kontextes einen riesigen Fortschritt dar; es war der Wandel zu einer Anerkennung eines medizinisch relevanten Leidens und ein Versuch der Fürsorge und Heilung statt Strafe.

Narrenturm, um 1895, Kollodiumpapier, auf Orig.-Karton aufgezogen, auf der Rückseite mit Fotografenstempel

Narrenturm, um 1895, Kollodiumpapier, auf Orig.-Karton aufgezogen, auf der Rückseite mit Fotografenstempel

Die dynamische wissenschaftliche Entwicklung auf allen Wissensgebieten strahlte in vielfacher Hinsicht auf die Psychiatrie und in der Folge auf die forensische Psychiatrie aus. 1780 entdeckte der italienische Arzt Luigi Aloisio Galvani eher zufällig durch Experimente mit Froschschenkeln die Kontraktion von Muskeln, wenn diese mit Kupfer und Eisen in Berührung kamen, wobei auch Kupfer und Eisen verbunden sein mussten. Galvani stellte also unwissentlich einen Stromkreis her, bestehend aus zwei verschiedenen Metallen, einem Elektrolyten („Salzwasser“ im Froschschenkel) und einem „Stromanzeiger“(Muskel). Galvani erkannte diese Zusammenhänge noch nicht, aber er legte damit die Grundlage für die Entwicklung elektrochemischer Zellen (auch Galvanische Zellen oder Galvanische Elemente genannt) durch den italienischen Physiker Alessandro Volta.

Neuzeit

1809 war es wiederum ein italienischer Anatom und Physiologe, Luigi Rolando, der entdeckte, dass die Verletzung des Kleinhirns bei Tieren deren Bewegung stark behindert. Nach weiteren Experimenten erforschte der französische Anatom, Physiologe und Neurophysiologe Marie-Jean-Pierre Flourens 1824, dass das Kleinhirn die Bewegung koordiniert, aber nicht auslöst oder bewusst plant.

In dieser bewegenden Epoche begründete der deutsche Arzt und Hirnanatom Franz Joseph Gall mit der Phrenologie (Gallsche Schädellehre) die Lehre, dass das Gehirn das Zentrum für alle mentalen Funktionen sei. Außerdem trug er maßgebliche Arbeiten zur Physiognomie bei. Diese Lehre stellt dar, wie persönliche Charakterzüge bzw. Eigenschaften im Gesicht über die Mimik ablesbar sein können. Er entdeckte auch die Faserstruktur des Gehirns. Zudem erarbeitete er mit seiner Kranioskopie die Kraniometrie (Schädelvermessung), durch die sich Gall Schlüsse bezüglich der Gehirnform erhoffte. Dieser Ansatz führte allerdings zu der vermeintlichen Hoffnung, dass man aufgrund äußerer Merkmale von Menschen auf deren Gemütszustand schließen könne.

Der italienische Arzt, Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie Cesare Lombroso wiederum gilt als Begründer der kriminalanthropologisch ausgerichteten sogenannten Positiven Schule der Kriminologie (Scuola positiva di diritto penale). Mit seiner Theorie vom geborenen Verbrecher wollte Cesare Lombroso die aufklärerische Doktrin des freien Willens reformieren. In strafrechtlichen Angelegenheiten sollte die Zuständigkeit zwischen Juristen und Medizinern zugunsten der Mediziner verschoben werden. Lombroso ging es dabei keineswegs um eine „mildere“ Beurteilung oder geringere Bestrafung des geborenen Verbrechers, sondern um die Deutungshoheit des Psychiaters im strafrechtlichen Prozess.

Diese Forschungen führten allerdings zu schrecklichen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Irrwegen, da sie u.a. auch den Boden bereiteten für medizinisch-eugenische Programme und umfangreiche Zwangssterilisationen bei Kriminellen und „Geisteskranken“ im nationalsozialistischen Deutschland.

Ein weiterer Meilenstein war sicherlich die Berufung des deutschen Arztes, Psychiaters und Pädagogen Johann Christian August Heinroth im Jahr 1811 auf den weltweit ersten Lehrstuhl für „Psychische Therapie“ (Psychiatrie). Die Ergebnisse seiner Forschungen veröffentlichte er 1818 in dem 2-bändigen Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung, das als Gründungsdokument der Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin gilt. Darin vertrat er eine ganzheitliche Auffassung. Er führte den Begriff der „Person“ in die Krankheitslehre ein und sah seelische Störungen in der Regel als Erkrankungen der gesamten Person an. Konsequenterweise sah er in der jeweiligen Lebenseinstellung und Lebensführung einer Person die Grundlage von deren psychischer Erkrankung.

Ein schwerer Arbeitsunfall am 13. September 1848 von einem Vorarbeiter der amerikanischen Eisenbahngesellschaft Rutland & Burlington Railroad war für die neurowissenschaftliche Forschung von großer Bedeutung: Bei einer von Phineas P. Gage durchgeführten Sprengung schoss eine etwa 1,10 m lange und 3 cm dicke Eisenstange von unten nach oben durch seinen Schädel und verursachte einen großen Wundkanal. Die Stange trat unterhalb des linken Wangenknochens in den Kopf ein und oben am Kopf wieder aus (Läsion im präfrontalen Kortex). Während des Unfalls blieb Gage bei Bewusstsein und war auch später in der Lage, über den gesamten Hergang des Unfalls zu berichten. Er überlebte den Unfall und die Wunden heilten, lediglich sein linkes Auge wurde durch den Unfall irreversibel zerstört. Nach Angaben seines Arztes John D. Harlow war er nach wenigen Wochen körperlich wiederhergestellt, und auch seine intellektuellen Fähigkeiten (einschließlich Wahrnehmung, Gedächtnis, Intelligenz, Sprachfähigkeit) sowie seine Motorik waren völlig intakt. In der Zeit nach dem Unfall kam es jedoch bei Gage zu auffälligen Persönlichkeitsveränderungen. Aus dem besonnenen, freundlichen und ausgeglichenen Phineas Gage wurde ein kindischer, impulsiver und unzuverlässiger Mensch. Dieses Krankheitsbild ist heutzutage in der Neurologie als Frontalhirnsyndrom bekannt.

Computergenerierte Darstellung der Eisenstange im Schädel

Computergenerierte Darstellung der Eisenstange im Schädel

Späte Neuzeit - Moderne

Anfang des 20. Jahrhunderts war es dann erneut ein deutscher Neuroanatom und Psychiater, Korbinian Brodman, der im Jahr 1909 seine abschließenden Ergebnisse zur Zellarchitektur der Großhirnrinde (Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde in ihren Prinzipien, dargestellt aufgrund ihres Zellenbaues) publizierte. Er teilte die Großhirnrinde nach histologischen Kriterien in 52 Felder ein, die nach ihm heute als Brodmann-Areale benannt sind. Obwohl Brodmann bereits in Ansätzen die funktionelle Bedeutung der Parzellierungen erkannte, wurde für die meisten Areale erst später klar, was sie für die Funktion des Gehirns bedeuten und sind bis heute weiterhin Gegenstand der neurologischen Forschung.

Diese wurde zunehmend von medizintechnischen Innovationen vorangetrieben. So wurde 1924 von dem Neurologen Hans Berger an der Universität Jena die ersten Elektroenzephalographien eines Menschen vorgenommen, von Berger als „Elektrenkephalogramme“ bezeichnet:

Die Elektroenzephalographie (EEG) ist eine Methode der medizinischen Diagnostik und der neurologischen Forschung zur Messung der summierten elektrischen Aktivität des Gehirns durch Aufzeichnung der Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche. Das Elektroenzephalogramm (ebenfalls EEG abgekürzt) ist die grafische Darstellung dieser Schwankungen. Das EEG ist neben der Elektroneurographie (ENG) und der Elektromyografie (EMG) eine standardmäßige Untersuchungsmethode in der Neurologie.

Anfang der 1970er zeigten Forschungen des US-amerikanischen Neurowissenschaftlers Louis Sokoloff, dass sich radioaktive Glucose-Analoge gut zur Aufzeichnung der Gehirnaktivität eigneten. Damit legte er die Grundlagen für bildgebende Verfahren der Nuklearmedizin, der Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Die Erfindung der PET wird gemeinhin den amerikanischen Physikern Michel Ter-Pogossian und Michael E. Phelps zugesprochen, die ihre Ergebnisse 1975 publizierten.

Bei PET handelt es sich um eine Variante der Emissionscomputertomographie. PET erzeugt Schnittbilder von lebenden Organismen, indem es die Verteilung einer schwach radioaktiv markierten Substanz (Radiopharmakon) im Organismus sichtbar macht und so biochemische und physiologische Funktionen abbildet (funktionelle Bildgebung).

Ein wichtiger Beitrag zur Diskussion der Fragen, warum der Mensch zu Empathie fähig ist, sich sozial verhält und wie die menschliche Moral entstanden sein könnte, leistete der italienische Neurophysiologe Giacomo Rizzolatti einer der bedeutendsten Hirnforscher unserer Zeit, mit der Erforschung von Nervenzellen, die Handlungen steuern und daher „Handlungsneurone“ genannt werden. Im Jahr 1992 gelang Rizzolatti mit einem einfachen Experiment mit Affen ein wissenschaftlicher Durchbruch auf diesem Gebiet. Er wies nach, dass im Gehirn eines Affen die gleichen neuralen Prozesse ablaufen, egal, ob er ein eigenes Verhalten zeigt oder dieses nur beobachtet. Hierfür wurden die Hirnströme von Affen gemessen, wenn sie eine Nuss finden und verspeisen oder nur durch eine Glasscheibe beobachten, wie ein Artgenosse dies tut. In beiden Fällen kam es zu identischen Abläufen im Gehirn der Affen. Noch nie zuvor war experimentell gemessen und verglichen worden, wie ein Gehirn reagiert, wenn ein eigenes Verhalten gezeigt oder nur beobachtet wird. Die Nervenzellen, die beim Beobachten die gleichen Reaktionen zeigen wie beim eigenen gezeigten Verhalten, nannte Rizzolatti Spiegelneurone.

Allerdings konnten nachfolgende Forschungen, insbesondere in den Neurowissenschaften, bislang für keine Spezies Anhaltspunkte für den von Rizzolatti erdachten Zusammenhang von Spiegelneuronen und Empathie (Mitgefühl) erbringen. Man geht heute eher davon aus, dass empathisches Verhalten nicht mit Nachahmungsverhalten verwechselt werden darf, das in der Psychologie auch als Gefühlsansteckung bezeichnet wird. Es handelt sich hierbei um die per Mimik ausgedrückten Gefühle eines Menschen, die bei anderen Menschen unwillentlich Imitationen auslösen können.

Diskussionen und Forschungsfragen

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts streiten sich Hirnforscher und Juristen vermehrt über Verantwortung und Schuld des Menschen: Sieht der Wissenschaftler im Hirnscanner mehr, als der Richter durchschaut?

Lässt sich für das Gericht mittels Hirnscans zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden oder die Schuldfähigkeit von Tätern beurteilen?

Wenn es um psychologische Studien geht, stehen die Begriffe Hirnscan, Kernspin und das Kürzel fMRT (englisch: fMRI) allesamt für dasselbe Verfahren: die funktionelle Magnetresonanztomographie. Die Probanden liegen dabei in einer Röhre (Scanner), die ein starkes Magnetfeld um ihren Kopf herum aufbaut, und lösen vorgegebene Denkaufgaben. Der Scanner misst derweil die Durchblutung der einzelnen Hirnregionen. Seine Sensoren fangen die Signale von Wasserstoff-Kernen auf, die durch das Magnetfeld aus ihrer ursprünglichen Orientierung ausgelenkt werden. Das Eisen im Blut bewirkt eine Störung im Magnetfeld. Je nachdem, ob Sauerstoff an das Eisen gebunden ist oder nicht, fällt die Störung unterschiedlich aus. In den aktiven Hirnarealen wird mehr Sauerstoff verbraucht, und die Sensoren erhalten ein anderes Signal als aus der weniger aktiven Umgebung. Hirnforscher messen immer abwechselnd das Gehirn in Ruhe und das Gehirn bei einer Aufgabe. Dann vergleichen sie Punkt für Punkt das jeweils gemessene Aktivitäts-Signal.

fMRT-Aufnahme des Gehirns eines 24-jährigen Probanden.

fMRT-Aufnahme des Gehirns eines 24-jährigen Probanden.

Die Diskussionen zwischen den Wissenschaftlern haben große Bedeutung für die Frage nach Schuld und Verantwortung für strafbares Handeln und die rechtliche Beurteilung desselben: Blüht unserem Rechtssystem eine Neuro-Revolution? Werden bald "gefährliche Gehirne" aus dem Verkehr gezogen - statt Personen zur Verantwortung? Helfen Hirnscans, Verdächtige einer Straftat zu überführen oder ihre Schuldfähigkeit zu klären? Szenarien wie diese gibt es viele. Doch einer näheren Prüfung halten sie - noch - nicht stand.

Du hast noch nicht genug vom Thema?

Hier findest du noch weitere passende Inhalte zum Thema:

Kurse

Quellen


    Dieses Werk steht unter der freien Lizenz
    CC BY-SA 4.0Was bedeutet das?